So, nachdem ich aus einem älteren Thread zum Thema Kirchentonarten nicht so richtig schlau geworden bin - es blieben für mich immer Fragen offen – habe ich mir drei verschiedene Videos und einen längeren Artikel dazu angeschaut und dann dämmerte es mir endlich. Ich versuche meine Erkenntnisse hier einmal so zusammen zu fassen, damit auch Leute ohne musiktheorethisches Hintergrundwissen verstehen, was es damit auf sich hat.
Das Hauptproblem für mich war die Namensgleichheit von
Tonart und Kirchen
tonart. Erste wichtige Klarstellung: Die sogenannten Kirchentonarten (im Englischen „modes“ genannt) sind aber keine Tonarten in dem Sinne, wie man C-Dur, C#-Dur etc. verwendet.
Es wäre besser von Kirchentonleitern zu sprechen.
Geschichte: Im frühen Mittelalter, als sich das Christentum in weiten Teilen Europas etabliert hatte, begann die Geschichte der Kirchenmusik. Um zu gewährleisten, dass die liturgischen Kirchenlieder überall gleich klingen, begann man das notierte System zu entwickeln. Das ursprüngliche System der Mönche wurde Neumen genannt. Diese waren Anfangs noch ohne Linien und Takt, die erst später dazu kamen. Erst um 1600 herum schälte sich das notierte System, wie wir es kennen heraus.
Warum gibt es jetzt Kreuze und Bs? Ganz einfach, weil diese Töne ursprünglich nicht verwendet wurden. Man musste in das System, das für 7 Töne erstellt wurde, irgendwie die zusätzlichen Töne c#/des – d#/es – f#/ges - g#/as – a#/b(Bb) unterbringen. Anstatt mehr Linien zu machen, wurden die Vorzeichen erfunden.
Was hat das mit den Kirchentonarten zu tun? Ganz einfach, die Halbtöne (die als schwarze Tasten auf der Klaviatur zu sehen sind) gab es ursprünglich in der Kirchenmusik nicht, oder wenn, dann zufällig, weil ein Instrument falsch gestimmt war.
Alle damaligen Instrumente hatten nicht wie unsere Gitarren und Klaviere 12 Töne, sondern nur 7. Die gab es übrigens schon bei den Griechen. Und bei denen gab vor allem Harfen, Leiern und Flöten als Melodieinstrumente.
Diese stimmte man, so es genug Saiten waren, A B C D E F G und wenn noch mehr Saiten vorhanden waren wieder von vorne a b c d e f g.
Flöten hatten damals, so wie Tinwhistles nur 6 Löcher, was 7 Töne plus 7 weitere durch überblasen ergibt.
Das war also, als wenn man nur weiße Tasten auf dem Klavier hätte, bzw. die Bundstäbchen ähnlich wie bei einem Dulcimer verteilt wären. Solche Instrumente nennt man „diatonisch“. Auf diesen kann man nur in einer Tonart (in unserem heutigen Sinne) spielen.
Am Anfang seiner Gitarrenkarriere erlebt man das auch. Man kann wunderbar viele gängige Lieder mit A D und E (also in A-Dur) oder D , G und A (also in D-Dur) begleiten, aber irgendwann wird es langweilig und man kann oft nicht jedes Lied in den zwei Tonarten singen. Abhilfe schafft entweder mehr Griffe zu lernen, oder ein Kapodaster.
Experiment: Spielt einmal eine Akkordfolge oder eine Melodie, die ihr gut beherrscht und spielt sie dann noch einmal mit einem Kapodaster im dritten Bund. Plötzlich klingt das ganze irgendwie anders, obwohl eure Finger immer noch weitgehend dieselben Bewegungen ausführen.
Erklärung: Das kommt daher, dass ihr die Tonart gewechselt habt. Gleich geblieben sind aber die Intervalle, die Abstände zwischen den Tönen und Akkorden.
Diese Option hatten die Kirchenmusiker des Mittelalters (und die Musiker der Antike) ursprünglich nicht. Um etwas Abwechslung in die Musik zu bekommen, mussten sie sich anders behelfen. Wenn ihnen eine Melodie langweilig wurde, starteten sie sie einfach an einem anderen Ton des Instrumentes. Was dann passiert, kann man mit einem weiteren Experiment testen. Nehmt ein Keyboard oder ladet euch eine Keyboard-App auf das Handy und spielt „Alle meine Entchen“. Dann startet einfach einmal von d oder e aus und lauscht, was da passiert.
Oh Schreck, die Melodie klingt jetzt plötzlich anders!
Eure Bewegungen sind gleich geblieben, aber ein oder mehrere Intervalle sind jetzt anders, so dass die Melodie anders erklingt. In manchen Fällen wird sie fröhlicher dadurch, in anderen trauriger. Eine Variante, wenn man auf dem siebten Ton beginnt, klingt richtig unheimlich.
Diese Varianten (die man eben aus den bereits geschilderten Gründen Kirchentonarten nennt) heißen:
Ionisch startet beim C.
Dorisch startet beim D.
Phrygisch startet beim E.
Lydisch startet beim F.
Mixolydisch startet beim G.
Äolisch startet beim A.
Lokrisch startet beim H (damals auch im deutschsprachigen Raum noch B genannt).
Das sind die
ursprünglichen Kirchentonarten, die aber genau genommen immer im Tonraum der C-Dur Tonleiter bleiben. Das tut übrigens A-Moll auch. C-Dur ist nämlich = Ionisch und Moll = äolisch. Moll und Dur sind aus dieser Praxis der Variation übrig geblieben.
Ab dem Hochmittelalter begann man Instrumente mit zusätzlichen Halbtönen zu bauen um mehrere Tonarten spielen zu können. Durch den erweiterten Tonumfang gab es nun mehr Möglichkeiten Musik zu variieren und die Kirchentonleitern gerieten aus dem Blickpunkt.
Im frühen 20. Jahrhundert entdeckten Jazzmusiker diese für sich wieder. Allerdings konnte man jetzt auf jeden Ton einer jeden (Dur-)Tonart die Kirchentonleitern aufbauen. Wenn man heute eine der Kirchentonleitern verwendet, muss man die Tonart (in unserem heutigen Sinne) dazu nennen.
Z.B. F-Dorisch oder f#-äolisch usw.
Ein schönes Klangbeispiel um sich die Wirkung zu vergegenwärtigen ist unter
https://youtu.be/Mk7nU5SpnLE?feature=shared zu finden.
Was nützt dieses Wissen dem Lagerfeuergitarristen?
Erst einmal wenig. Aber mit Steigerung der eigenen Fähigkeiten und der Weiterentwicklung des eigenen musikalischen Gehörs wird man ab und zu Hörerlebnisse haben, die sich mit Hilfe dieses Wissens erklären lassen. Musik ist irgendwie magisch, aber eben doch kein Hexenwerk.